Die Gründung eines deutschen Nationalstaats war ein wesentliches Ziel der bürgerlichen Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Doch als am 18. Januar 1871 schließlich mit der Ausrufung des preußischen Königs Wilhelm I. zum Kaiser das Deutsche Reich gegründet wurde, spielten andere politisch-soziale Kräfte die führende Rolle: Nach seiner verfassungsrechtlichen Konstruktion war das Kaiserreich formal ein Bund der deutschen Fürsten, und es stützte sich wesentlich auf die bewaffnete Macht ihrer Heere. Gewählte Volksvertreter waren beim Gründungsakt nicht anwesend und an der Errichtung des neuen Staates nur indirekt, durch die Mitarbeit an der Verfassung beteiligt. Man hat das Deutsche Kaiserreich dementsprechend als eine Reichsgründung oder sogar als eine Revolution „von oben“ charakterisiert, die im Wesentlichen von den Kräften der alten Ordnung vollzogen wurde.
„In Frankreich hatte der Staat eine Armee, in Deutschland hatte die Armee einen Staat“ - so skizzierte Prof. F. Balace die unterschiedliche militärpolitische Lage der beiden Nachbarländer in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Seit der deutschen Reichsgründung war das Militär nicht nur Teil der Staatsstruktur, sondern Kern der Gesellschaft. Die Kommandogewalt lag beim Kaiser; alle Führungsstellen wie z.B. Kriegsminister oder Generalstab waren ihm untergeordnet, und das sowohl beim Heer als auch bei der Marine. Kaiser Wilhelm II. war dieser Aufgabe jedoch nicht gewachsen. So lange es einen starken Kanzler Bismarck gab, fiel dies nicht sonderlich ins Gewicht. Doch nach dessen Entlassung 1890 wurde der Einfluss des Militärs stärker, zum Nachteil von Politik und Diplomatie. Der Schlieffen-Plan ist hier als Beispiel zu nennen, denn ein militärischer Fachmann entwarf hier außenpolitische Strategien zur Kriegsführung. Er überging damit die Politiker, deren Aufgabe darin bestanden hätte, den Krieg durch Diplomatie zu verhindern.
In den Augen der Militärs hatte sich die Politik um die Auswirkungen ihrer Strategien zu kümmern. Und den maßgeblichen Politikern (Außenminister W. von Schoen, Reichskanzler T. von Bethmann Hollweg) kam es auch erst gar nicht in den Sinn, dem militärischen Sachverstand zu widersprechen. Bündnisse mit befreundeten Staaten und Neutralitätsverpflichtungen spielten eine untergeordnete Rolle. Ein weiteres Beispiel von fehlender Koordination zwischen militärischen und politischen Verantwortungsträgern ist der Ausbau der Kriegsflotte zu einer der mächtigsten der Welt. Auch hier nahm man keine Rücksicht auf Befindlichkeiten der Nachbarn, in diesem Fall der britischen Royal Navy.
Seit der Reichsgründung 1871 hatte das Militär einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert. Im öffentlich zu Schau getragenen Patriotismus (im Geschichtsunterricht, bei patriotischen Festen, durch Denkmalsbauten oder Totenehrungen) spielten Heldentum im Krieg und militärischer Glanz eine große Rolle. Dieser Patriotismus war keineswegs von oben verordnet, sondern Ausdruck eines enthusiastischen Nationalismus, in dessen Folge das Militär und insbesondere die Unteroffiziere und Offiziere ein hohes gesellschaftliches Ansehen genossen.
In einer Kabinettsorder vom 29. März 1890 hatte Kaiser Wilhelm II. verfügt, dass die Vergrößerung des Offizierskorps künftig auch königstreue Bürgersöhne umfassen soll: Der „Adel der Gesinnung“, nicht Reichtum und Privilegien, soll das Hauptkriterium für die Auswahl der Rekruten sein. Das Militär war nicht länger den adligen Eliten vorbehalten, sondern suchte sich seine Führungskräfte in den gut ausgebildeten bürgerlichen Kreisen. Militärische Denkweisen, wie Befehl und Gehorsam, Disziplin und Ordnung oder Freund-Feind-Denken bestimmten nach und nach gesamtgesellschaftliche Haltungen, wo Freiheit, Spontaneität und Pluralität nicht gedeihen konnten.
Das zähe Fortleben der Traditionen von Obrigkeitsstaat, Militärmonarchie, bürokratischer Herrschaft und Dominanz der alten Eliten verhinderten somit die Modernisierung des politischen Systems.